Am Dienstag wurde meine Grenze im Gespräch mit der ambulanten Pflegekraft (Spitex), die mich regelmässig daheim aufsucht, massiv überschritten. Ich habe in einem „therapeutischen“ Gespräch zum Glück noch nie sowas erlebt. Ich hätte es vielleicht erkennen können, es gab Hinweise, aber ich konnte sie nicht sehen.
— TRIGGER —
Dass ich einen Mann als Spitex ausgesucht habe, hatte damit zu tun, dass mich die Psychologin in der Klinik und die Pflegerinnen derart abgewertet und retraumatisiert haben. Es gab jedoch sowohl in der Klinik als auch im KIZ je eine männliche Pflegekraft, der ich vertraute und die mir das Gefühl gaben, trotz meines Verhaltens ein Mensch zu sein. Der Pfleger im KIZ hat uns jede Nacht Tee mit Honig gemacht, als wir Angst hatten zu schlafen. Er hat uns gesagt, wir seien im KIZ sicher. Er hat überprüft, ob alle Türen in der Nacht abgeschlossen sind und hat sich wirklich Mühe gegeben, dass wir uns sicher fühlen. Ich dachte also, so ein älterer Mann könnte mir als Spitex das Gefühl von Sicherheit geben. Und ja, ein bisschen habe ich auch gedacht, dass ich eine Art Vaterfigur in meinem Leben brauchen könnte, denn ich habe zur Zeit fast nur mit Frauen zu tun. Es stellte sich heraus, dass er etwas zu sehr wie mein Vater ist, aber das konnte ich auf seinem Foto und seinem Lebenslauf nicht erkennen.
Am Anfang waren unsere Gespräche recht gut und erst im Nachhinein habe ich gemerkt, dass er sehr wenig Empathie gezeigt hat, sondern mir vor allem auf intellektueller Ebene begnet ist. Ich konnte mich vor ihm nicht verletzlich zeigen, sonder sprach sachlich über Themen. Er meinte mehrmals, ich wirke total gesund und er könne nicht viel „Krankes“ an mir erkennen. Doch ich habe von meinem Leben erzählt, von den Erinnerungslücken, von dem Vorfall mit dem Typen, mit dem ich vielleicht oder vielleicht auch nicht geschlafen habe. Er wusste, dass ich dissoziere. Er wusste, dass da ein Trauma dahintersteckt, das ich nicht kenne. Er hat auch den letzten Klinikbericht gelesen und wusste, dass es für mich schlimm ist, wenn ich angefasst werde. Deshalb gibt es aus meiner Sicht keine Entschuldigung für sein Verhalten.
Ich habe mehrmals darüber gesprochen, dass ich meinen Körper kaum wahrnehme und habe mit seiner Hilfe auch entschieden, Somatic Experiencing auszuprobieren. Bei fast jedem Gespräch kam er wieder auf das „Leib-Seele“-Problem zu sprechen, er hat mich auch mehrmals gefragt, ob ich mich selbstbefriedige. Da hätten wohl die Alarmglocken schon klingeln sollen, den ich habe nie von mir aus über Sexualität gesprochen, das Thema kam jedes Mal von seiner Seite.
Am Dienstag sprachen wir wieder einmal darüber, wie schlimm der Klinikaufenthalt für mich war und dass es doch sicher eine Lösung für das Blutdruckmessen und das EKG hätte geben können, das nicht in einer Eskalation endete. Und wieder kam er mit dem Thema Sex. Er fragte noch einmal, ob ich mich selbstbefriedige. Dann wollte er wissen, wie der Sex in meinem Leben so war. Meine Alarmglocken haben wohl geklingelt, aber ich hörte sie nicht. Ich erzählte, dass ich beim Sex immer dissoziiert habe und keine Erinnerungen daran habe, aus meiner Sicht habe ich noch nie Sex gehabt. Jetzt dissoziiere ich grad wieder… Ich kanns nicht mal aufschreiben. Das Gespräch ist plötzlich weg.
Ok, ich versuche, den Faden wieder aufzunehmen. Er fragte, ob denn die Sexualität in meinem Leben keine wichtige Rolle spielt und ob ich keine Lust empfinde. Ich sagte, im Moment sei es kein Thema, es stehen andere Dinge im Vordergrund. Immer noch keine Alarmglocken zu hören. Dann wollte er wissen, ob mir bewusst sei, dass Sexualität im Menschsein eine wichtige Rolle spielt. Da begann sich langsam ein wenig Nebel in meinen Kopf einzuschleichen. Ich hörte mich etwas von Reproduktion schwafeln und dass es für die Arterhaltung wichtig sei, dass der Akt für ein Lebewesen angenehm sei.
Plötzlich hörte ich die Worte „Pimmel“ und „Scheide“ aus seinem Mund und irgendwas von reinstecken. Ich merkte, wie ich die Kontrolle verlor, immer weiter verschwand. Und dann sagte mein Mund laut und bestimmt: „Jetzt ist fertig. Hören Sie auf!“ Und irgendwie war ich wieder etwas mehr da. Aber statt ihn rauszuwerfen, hörte ich, wie ich mich entschuldigte und rational erklärte, er habe eine Grenze erreicht und ich möchte nicht weiter über dieses Thema sprechen. Er fragte, ob wir ein bisschen rausgehen sollen, um frische Luft zu schnappen und ich sagte, ich glaube, es sei besser, wenn er jetzt geht. Er sagte noch, dass Sexualität in seinem Leben ein wichtiges Thema sei. Ich spürte, dass jemand in mir Angst hatte vor ihm und ihn beschwichtigen wollte und mein Mund fragte ihn sogar, ob er mich ins Wohnheim begleiten würde, um meine Akte abzuholen. Als es darum ging, einen Termin auszumachen, sagte ich, dass ich ihn erst in drei Wochen wiedersehen wolle. Nach diesem Gespräch brauche ich eine Pause. Er sagte, er fühle sich schlecht, fragte, ob es mir gut geht. Ich sagte, dass würde ich erst in ein paar Stunden oder Tagen wissen.
Am Abend rief er mich an. Fragte wie es mir geht. Ich fragte ihn, warum er das getan habe. Er antwortete nicht, spiegelte mich nur: Sie fragen sich also, warum ich das getan habe. Ich sagte, sei Verhalten mache absolut keinen Sinn. Und er meinte wieder: Für Sie macht mein Verhalten keinen Sinn. So ein Arschloch. Er musste dann mit dem Auto rechts ranfahren, anscheinend wollte er das doch in Ruhe besprechen. Ich sagte, er habe eine Grenze überschritten und er meinte, er sei nicht genug achtsam gewesen und hätte es nicht gemerkt. Er lerne daraus, dass er achtsamer sein müsse. Das war seine Erklärung für einen Menschen mit einer komplexen Traumafolgestörung, der wohl ein sexuelles Trauma hat, aber nichts davon weiss. Arschloch.
— TRIGGER ENDE —
Die Kleinen haben am selben einem Freund per Chat von dem Vorfall erzählt und er wollte dann von mir wissen, was passiert sei. Er arbeitet selber in der Pflege in einer psychiatrischen Klinik. Ich beschrieb ihm den Vorfall. Er meinte, es sei eine klare Grenzüberschreitung und ich solle dafür sorgen, dass der Typ seinen Job verliert. Ich könnte ihn auch anzeigen.
Ich konnte am Dienstag nicht mehr klar denken und liess das Thema auf sich beruhen. Gestern merkte ich aber, dass es gar nicht gut ist und sehr viel in mir passiert, das ich nicht steuern kann. Frau Stern ist im Urlauf. Also rief ich im KIZ an und fragte nach einem ambulaten Termin. Ich sagte, ich hätte etwas erlebt, das „potentiell retraumatisierend“ sein könnte. Ich wusste nicht, wie ich es anders nennen sollte. Sie konnten mir diese und nächste Woche keinen Termin geben, meinten aber, wenn es schlimmer wird, könne ich jederzeit stationär zu ihnen gehen, sie hätten Platz.
Ich wollte eine Retraumatisierung um jeden Preis verhindern und wusste nicht recht wie. Ich sprach mit einer Freundin, die Peer ist. Sie wollte gleich bei mir einziehen für die nächsten paar Tage, aber das wollte ich nicht. Ich kann in der Gegenwart von anderen Menschen nicht so gut meine Gefühle wahrnehmen und zeigen. Sie bot an, jeden Tag mit mir zu telefonieren und gab mir ein paar gute Inputs wie ich das Thema durch Kreativität angehen könnte. Sie sprach auch mit mir über Frühwarnzeichen und dass ich doch sicher in der Therapie mal sowas besprochen habe. Habe ich wahrscheinlich, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Dennoch war das ein guter Input. Dinge tun, die mir gut tun, die Gefühle nicht unterdrücken, versuchen, mit Titration und Pendeln arbeiten, wie ich es im SE gelernt habe.
Obwohl ich keine Lust darauf hatte, rief ich meinen Psychiater an, ich glaube, hier im Blog heisst er E. Er war freundlich. Meinte, ich solle eine Tagesstruktur machen und jeden Tag ein paar Tätigkeiten einplanen, damit ich mich nicht zu stark zurückziehe und um das Denken ein bisschen einzudämmen. Als ich ihm die Situation schilderte, meinte er, ich solle der Organisation und dem Pfleger eine Email schreiben und sagen, dass ich keinen Kontakt mehr wünsche und die Zusammenarbeit abbrechen will. Und ich solle ihn ins CC nehmen. Ich könne den Pfleger auch anzeigen.
Das gab mir Kraft. Ich machte einen Tagesplan, an den ich mich aber sowohl gestern wie auch heute nicht gehalten habe. Ich darf E. heute nochmals anrufen. Ich will versuchen, die Dinge Schritt für Schritt zu nehmen und wenn etwas hochkommt, dem mit Mitgefühl zu begegnen. Ich will mir Zeit geben und mir erlauben, mich zurückzuziehen und in meinem Nest (unser Bett) zu verstecken, aber ich will dafür sorgen, dass ich nicht im Bett versumpfe. Ich hoffe, das mir das gelingt.
Ich habe heute viel mehr Möglichkeiten damit umzugehen als damals, als ich in der Klinik war. Ich habe verschiedene kreative Outlets wie das Schreiben, das Malen, die Musik, das Zeichnen. Ich habe Menschen, mit denen ich darüber reden kann, was passiert ist und die mir spiegeln, dass es ok ist, mich so zu fühlen. Ich glaube das Reden ist ein wichtiger Punkt. Ich nehme nicht an, dass wir in der Kindheit darüber gesprochen haben, sprechen konnten, was passiert ist. Ich kann es hier aufschreiben. Ich kann raus in die Natur, um Kraft zu tanken, ich habe die Meditation, um zur Ruhe zu kommen. Ich habe meine Massagematte und die Gewichtsdecke.
Ich glaube, es wird mir gelingen, damit umzugehen. Ich glaube, ich bin inzwischen stark genug dafür. Trotzdem war das Verhalten des Pflegers absolut unangebracht und sogar strafbar. Inzwischen weiss ich, dass ich zusätzlich zum emotionalen wohl auch ein sexuelles Trauma habe. Ich hoffe daher, dass mich Erinnerungen, die in der nächsten Zeit aufkommen könnten, etwas weniger erschrecken und dass ich ihnen mit Mitgefühl begegnen kann.
Es war gerade total anstrengend, diesen Text zu schreiben. Deshalb werde ich ihn jetzt posten, ohne ihn nochmals durchzulesen. Ich hoffe, das Geschreibsel macht irgendwie Sinn und ihr könnt mir die Fehler verzeihen.